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Straßenfotografie II: Über Techniken und die Fähigkeit, sich selbst zu überraschen

Straßenfotografie II: Über Techniken und die Fähigkeit, sich selbst zu überraschen

Was macht gute Straßenfotografie aus? Ist es die Technik, die Herangehensweise oder die Location? Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur: Wenn mich eine Fotografie innerlich berührt, mir vielleicht auch eine Geschichte erzählt und mich dazu noch ästhetisch reizt – dann ist es gute Fotografie. Mit welcher Technik sie entstanden ist oder mit welcher Kamera ist mir dabei völlig egal. Ich arbeite mit dem Material, das mir zur Verfügung steht. Experimentiere und improvisiere dabei. Eines habe ich dabei gelernt: Zeit ist oft der entscheidende Faktor. Und: Man sollte immer bereit sein, sich selbst zu überraschen.

Für viele Fotografen ist die ideale Kamera für Straßenfotografie klein, leicht und unauffällig. Der Beobachter sollte eben keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn er die Szene nicht beeinflussen möchte. Gut eignen sich dafür die Messsucher-Kameras von Leica, wie zum Beispiel die M8, M9 oder jüngst die M10. Oder auch spiegellose Systemkameras wie die Olympus Pen oder Sonys vollformatige A7 II. Deren Gehäuse sind klein, sie wirken wenig bedrohlich, verdecken auch nicht das halbe Gesicht beim Fotografieren – denn das braucht man in der Regel für die Kommunikation mit den Personen, die man abbilden möchte, sobald diese einen doch bemerken. Soziale Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein sind wichtig. Und – ich wiederhole mich – Zeit. Die muss man sich lassen, will man mehr abbilden als ein Postkarten-Motiv.

Das Entscheidende ist Timing und ein wenig Glück.

Das gilt umso mehr, wenn die eigene Kamera eben nicht klein und unauffällig ist. Ich fotografiere mit einer Nikon D810. Die ist auch ohne angesetzten Hochformatgriff nicht so einfach zu übersehen. Um mit einer solchen Kamera fotografieren zu können, ohne die Umgebung allzu sehr auf sich aufmerksam zu machen, habe ich mir drei Techniken angeeignet. Ich nenne Sie DRIVE-BY, CHAMELÄON und TOURIST. Vorweg: Bei keiner dieser Techniken werden die abgebildeten Personen vorgewarnt, auch wenn gestellte Fotos ebenfalls ihren Reiz haben können. Über die juristischen, moralischen und künstlerischen Implikationen habe ich hier geschrieben.

Der DRIVE-BY

Der Drive-by ist ein simples Konzept, erfordert aber in der Ausführung ein wenig Übung und oft einiges an digitaler Nachbearbeitung. Wie der Name schon sagt, fotografiere ich dabei im Vorbeigehen oder -fahren, mit der Kamera auf Hüfthöhe oder aus einem Autofenster heraus, meist mit einem 20-Millimeter-Weitwinkel als Objektiv. Blende und ISO (ich arbeite mit Zeitautomatik) sind so eingestellt, dass meine eigene Bewegung und die der Motive zu möglichst wenig Unschärfe führen (obwohl das auch seinen Reiz haben kann). Den Autofokus stelle ich so ein, dass er automatisch das nächstgelegene Objekt erfasst. Das Entscheidende ist Timing und ein wenig Glück. Hier ein Beispiel – vor und nach der Bearbeitung in Lightroom:

Foto eines Verkaufsstands mit Haushaltswaren in Bangkok, geschossen im Vorbeifahren - ohne Nachbearbeitung
Die gleiche Fotografie - beschnitten, gedreht und korrigiert (größere Versionen)

Das CHAMELÄON

Das Chamäleon nenne ich so, weil ich mich bei dieser Technik so lange mit meiner Kamera an einem Ort aufhalte, bis mich schlicht niemand mehr wahrnimmt. Ich versuche sozusagen, mit der Szenerie zu verschmelzen – was ehrlich gesagt mal besser mal schlechter klappt. Am Besten funktioniert das auf öffentlichen Plätzen und mit einer Brennweite zwischen 50 und 200 Millimeter. Ich selber arbeite meistens mit dem Nikkor 50mm f1.4G, um das meiste aus der Lichtsituation herauszuholen. Zusätzlich bekomme ich mit diesem Objektiv auch auf die Distanz bei offener Blende noch den Hintergrund unscharf, um mein Motiv besser hervorzuheben. Doch das eigentliche Geheimnis ist, sich sehr viel Zeit zu lassen, um einen Ort ganz zu verinnerlichen – ein bis zwei Stunden mindestens. Hier ein Beispiel:

Straßenszene in Bangkok, Charoen Krung Road (größere Version)

Der TOURIST

Der Tourist ist eigentlich am einfachsten. Allerdings benötige ich dazu eine Begleitperson, die die Rolle des Modells einnimmt. Je nach Bildwinkel des Objektivs und Schärfentiefe kann ich so Szenen und Menschen erfassen, die sich neben und hinter meinem Modell abspielen. Der Vorteil: Ich kann mir Zeit bei der Komposition lassen und die Belichtung und Schärfe genau anpassen. Naturgemäß funktioniert diese Technik am ehesten in stark von Touristen frequentierten Gegenden. Der Vollständigkeit halber rate ich aber dazu, sich dabei nicht zu sicher zu fühlen: Es gibt bestimmte Menschen an heiklen Orten, die auch von der Rolle als Beiwerk auf einem mutmaßlichen Touristenfoto nicht begeistert sind.

Bangkoker Perspektiven in der Nähe der Charoen Krung Road (größere Version)

If you can smell the street by looking at the photo, it’s a street photo. (Bruce Gilden)

Andere Techniken bekannter Fotografen

Der New Yorker Straßenfotograf Bruce Gilden, der mich als Fotograf inspiriert, als Mensch aber eher weniger begeistert, verfolgt eine deutlich aggressivere Technik auf den Straßen seines Heimatviertels Brooklyn: Mit der Kamera in der einen und Blitz in der anderen Hand flasht er seine Motive aus nächster Nähe direkt an. Seine Fotos sind immer nah dran, bei seiner Reportage aus Haiti für die Agentur Magnum fühlt man das besonders intensiv. Das Selbstbewusstsein in seiner Arbeit gründet natürlich auch in einer anderen rechtlichen Situation in den Vereinigten Staaten: Wer sich dort im öffentlichen Raum aufhält, ist anstandslos und ohne weitere Formalie fotografierbar; in Deutschland würde sich Gilden schon beim Auslösen in einigen Situationen strafbar machen.

Es gibt eine Technik, die ich bevorzugen würde – wenn ich denn die Zeit und Ressourcen dafür hätte: Insbesondere wenn die Fotografie sozial etwas bewirken soll, muss sich der Fotograf mit seinen Motiven beschäftigen. Nicht für ein paar Minuten oder ein paar Stunden, sondern unter Umständen für einige Tage, Wochen oder Monate, ohne ein einzige Foto zu machen – um zunächst Nähe und Vertrauen aufzubauen. Die Fotografin Sara Naomi Lewkowicz hat das bei ihrer Reportage über häusliche Gewalt (Shane and Maggie: An Intimate Look at Domestic Violence) getan. eine Arbeit, die sie als Studentin machte, und mit der sie zurecht ins Time-Magazine kam (Photographer as Witness: A Portrait of Domestic Violence). Sara folgt ihren Motiven von der Straße in deren Häuser, in deren Privatsphäre und erzählt so Geschichten – wichtige Geschichten – die anders kaum zu erzählen wären. Ihre Arbeit ist Kunst, Journalismus und Aktivismus in einem. Für mich ein erstrebenswertes Ideal.

Epilog

Die Fotos in diesem Beitrag findet Ihr auch hier in meinem Flickr-Album "Bangkok Street Life":

Bangkok Street Life